Gänsehaut im „neuen Wankdorf“

SCHWEIZ Das legendäre Stadion in Bern ist heute das moderne
Stade de Suisse-Wankdorf. Beim Besuch werden Erinnerungen wach.

Kalt, nass und grau ist es an diesem Frühlingstag in der Schweiz – herrlich! Denn das ist „Fritz-Walter-Wetter“.

So wird ein wenig von der Atmosphäre lebendig, die an diesem für jeden deutschen Fußball-Fan historischen Ort am 4. Juli 1954 geherrscht haben muss. Im Berner Wankdorfstadion.

Ingenieur Fritz Hegi zeigt aufs Spielfeld: „Rahn müsste schießen, Rahn schießt. Ja, da vorn, da vorn, da war das. Vor 60 Jahren.“ Ich blicke auf frisch eingerollten Rasen und neue Torpfosten.

Hier ist der Ort einer sportlichen Legende. Ein Ort für Gänsehaut-Gefühle.

„Plötzlich fängt ein älterer Herr aus Ungarn hemmungslos an zu weinen.“
Stadionbetreuer Fritz Hegi

Doch das „alte Wankdorf“ ist nicht mehr: Im August 2001 wurde die Arena des Wunders von Bern gesprengt, um auf demselben Grund das moderne Stade de Suisse-Wankdorf zu bauen.

Weltweit größtes Stadion-Sonnenkraftwerk
350 Millionen Schweizer Franken hat die Hightech-Anlage mit Shopping-Area, Gastronomie-Meile, Kongresszentrum, Hotel und dem weltweit größten Sonnenkraftwerk in einem Stadion gekostet. Pop-Konzerte, Länderspiele und die Matches der Young Boys Bern finden hier statt. 32 000 Zuschauer finden Platz.

Vor mehr als sechs Jahrzehnten waren es mehr als 60 000 Fans, die sich zum Finale ins Wankdorf drängten, rund um den markanten Stadionturm mit der „Chocolat Tobler“ und „Cinzano“-Reklame.

Für Fritz Hegi, damals zwölfjähriger Steppke, wurde das Endspiel Deutschland gegen Ungarn zum ersten großen Fernseherlebnis in Schwarz-Weiß.

Heute ist er fachkundiger Betreuer für Besuchergruppen aus aller Welt. Hegi: „Vor zwei Jahren hatte ich Gäste aus Budapest. Da haben wir natürlich auch Spielszenen von 1954 auf der Leinwand gezeigt. Plötzlich, bei Rahns Siegtreffer, fing ein älterer Herr hemmungslos an zu weinen.“ Es war Ungarns Torwart Grosics, dessen Leben sich durch diese eine Niederlage schlagartig änderte. Die „Wunde von Bern“, sie ist bei ihm nie wirklich verheilt.

Beim Blick aufs Spielfeld erinnere ich mich an meinen Besuch am Thuner See vor einigen Jahren im Hotel Belvédère, wo die deutsche Auswahl damals den „guten Geist von Spiez“ suchte – und fand. Gemeint ist damit der Inbegriff von Kameradschaft. Das Motto der Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ schweißte den Turnier-Außenseiter zusammen.

Im Schauplatz Belvédère, dessen Fassade seit jenen Tagen nicht verändert wurde, hält Hoteldirektor Markus Schneider den Geist lebendig. Das Haus atmet das Flair der Fünfziger, ohne altmodisch zu wirken. Der „gute Geist“, er könnte unbemerkt durch die Flure schleichen. Auf den Türen in der dritten Etage prangen auch heute noch glänzende Goldschildchen: 313 Sepp Herberger, 302 Horst Eckel/Hans Schäfer, 303 Fritz Walter/Helmut Rahn, 306 Otmar Walter/ Werner Liebrich. Was für eine tolle Mannschaftsaufstellung!

Als ich damals meinen Zimmerschlüssel bekam, ballte ich vor Freude die Faust: 311, Paul Mebus/Toni Turek. Mir läuft heute noch ein kleiner Schauer über den Rücken: das Zimmer von Toni, dem „Fußball-Gott“!

Für diesen berühmten Ausruf erhielt Radioreporter Helmut Zimmermann damals von seinem Intendanten einen strengen Verweis wegen Blasphemie. Doch feststeht: Toni rettete mit seinen tollen Paraden den Sensationssieg gegen den haushohen Favoriten.

Das Zimmer ist recht klein, mit Blick auf das Dorf und den Niesen, den Hausberg von Spiez. Klar, das einfache Waschbecken von damals ist nicht mehr da. Das Haus ist auf zeitgemäßen Vier-Sterne-Komfort gebracht.

Seppl Herbergers ewige Weisheiten
Im Erdgeschoss geht‘s in den Bankett-Saal, in den „Chef“ Herberger stets zu seinen Pressekonferenzen lud. Hier fielen unvergessene Fußballweisheiten: „Der Ball ist rund.“ Und: „Ein Spiel dauert 90 Minuten.“ Und: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“

In der Mitte des Raumes thront ein Modell des Wankdorfstadions, rundherum stehen Vitrinen mit Originalfotos, Autogrammen, Wimpeln, den ersten Fußballstiefeln mit Schraubstollen, schwarz-weiße Trikots, das WM-Plakat von ’54.

Die „Helden von Bern“, sie bleiben einmalig. Auch 60 Jahre nach dem großen Triumph. Für immer.

Erschienen im WZ - Reisemagazin am 5. Juli 2014: Gänsehaut im neuen Wankdorf