Die Welt ist ein Dorf – acht Quadratkilometer Heimat für 220 Einwohner auf der Nordsee-Halbinsel Eiderstedt in Schleswig-Holstein: Eine stattliche Kirche, saubere Ferienwohnungen in Backsteinbauten, ein prächtiges Feuerwehrhaus als Zierde, ein buckliger Fußballplatz als Festwiese, zottelige Kühe und blökende Lämmer, markiger Güllegeruch und fleißige Bauern.
Vor zwei Jahrtausenden vertrieben die friesischen Vorfahren die römischen Legionäre mit Boßeln, steinharten Lehmkugeln.
Moin Moin. Pils zum Buffet?“ Die flotte Bedienung im Möllner Hof fragt friesisch knapp, ich nicke nur. „Willkommen im Zentrum der Welt“, sagt sie selbstbewusst und lächelt. Es ist Freitagabend im traditionellen Kirchspielskrug. Gegenüber der Theke hocke ich am Stammtisch des Boßelvereins Eiderbund von 1906.
Hinter mir auf den Regalen blitzen dutzende Silberpokale, über mir baumelt ein massiver Rundleuchter mit Holzkugeln dran. Rundherum Urkunden, Holztafeln, Wimpel und Fotos. Trophäen der Welt-Sportart Nummer eins.
Vor zwei Jahrtausenden vertrieben die friesischen Vorfahren die römischen Legionäre mit Boßeln, steinharten Lehmkugeln. Heute sind die Boßeln aus Holz oder Hartgummi mit einem Kern aus Blei.
Spielregel: Eine Kugel muss mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke hinterm Deich, an Wassergräben entlang oder auf der abgesperrten Landstraße geschleudert werden.
Ruhm erlangten die Welt-Sportler vor sieben Jahren gegen ihren Nachbarn, Europameister St. Peter-Ording. Sieben Stunden dauerte der erbitterte Wettkampf mit je 40 Mann. Ein großer Sieg für die ganze Welt. „Eiderbund kann eenfach bedder boßeln. So een Schieet für de Peterianer. Lüch op, jümm Helden!“ Dirk, einer der Welt-Legenden, feiert den legendären Sieg mit seinen Kumpels immer noch gern.
Wie heute beim Eiderstedter Buffet zum Klönschnack im Vereinslokal. Mit Krabbensuppe und Matjessalat, Sauerfleisch von der Pute mit Bratkartoffeln, Bohnen und Speck, Mehlbeutel und Buttermilchsuppe. Darauf einen Klaren zur roten Grütze!
Bürgermeister Dirk Lautenschläger, Vorsitzender der Wählergemeinschaft Welt, ärgert sich, dass bei Nacht und Nebel auf geheimnisvolle Weise wieder mal das gelbe Ortsschild verschwunden ist. Marlies Meister, die Wirtin im Möllner Hof, muss ihn ein wenig aufmuntern. Und das geht am besten mit dem plattdeutschen Boßlergruß „Lüch op!“ Übersetzt: „Heb‘ auf“ die Kugel. Oder das Pils. Prooost! Auf 220 Friesenmenschen, die täglich Weltgeschichte schreiben.
Erschienen in den Ruhr Nachrichten am 20. Juni 2015: Im Z/entrum der Welt